R. Cornejo Parriego (Hrsg.): Memoria colonial e inmigración

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Titel
Memoria colonial e inmigración. La negritud en la España posfranquista


Herausgeber
Cornejo Parriego, Rosalía
Erschienen
Barcelona 2007: Edicions Bellaterra
Anzahl Seiten
277 S.
Preis
€ 18,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexandre Froidevaux, Universität Erlangen-Nürnberg

Der spanische Süden war einst das Armenhaus des Landes. Viele Spanier wanderten von dort in die industriellen Zentren des spanischen und europäischen Nordens aus. In einer Szene des Films „Poniente“ (2002) von Chus Gutiérrez verfährt sich Lucía, die Hauptfigur, in den endlosen Treibhausplantagen Andalusiens. Die weißen Plastikplanen der Plantagen verdecken ihr die Sicht, die Straßen dazwischen sind ohne Wegweiser. Lucía beginnt zu verzweifeln, bis einige Einwanderer, die in den Pflanzungen arbeiten, ihr zu Hilfe eilen. Einer von ihnen sagt zu Lucía: „Tenemos pocas visitas por aquí, esto es el fin del mundo“ (S. 235). Die Filmszene versinnbildlicht, wie die plastikgewandeten Anbauflächen, die für die Andalusier heute zur Quelle eines neu gewonnenen Wohlstandes geworden sind, zugleich Heimstatt eines neuen marginalisierten Landproletariats sind, das nun freilich meist noch weiter aus dem Süden kommt: aus Afrika.

Seit der Aufklärung war es das Ziel spanischer Intellektueller gewesen, das Land an Europa heranzuführen und die Alexandre Dumas zugeschriebene Ansicht zu überwinden, dass „l’Afrique commence aux Pyrénées.“ Es mag als Ironie der Geschichte gelten, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem Spanien endgültig Teil Europas geworden ist, das koloniale Andere längst im Land selbst präsent ist. Juan Goytisolo beobachtet: „España ha oscurecido, presenta una faz mucho más morena que hace cinco o diez años“ (S. 14). Tatsächlich hat Spanien zwischen 1995 und 2008 etwa vier Millionen (!) Immigranten aufgenommen, darunter viele Schwarze aus Afrika und der Karibik.1 Rosalía Cornejo Parriego, selbst Kind von ehemaligen „Gastarbeitern“ in Deutschland, kommt das Verdienst zu, in der vorliegenden Publikation diverse kulturwissenschaftliche Beiträge versammelt zu haben, die sich dem Spannungsfeld zwischen spanischer nationaler Selbstimagination einerseits und dem kolonialen Erbe, der Immigration und dem „blackening“ (Paul Gilroy) andererseits widmen.

Die Autorinnen und Autoren untersuchen Filme, Romane und Lieder und spüren dabei der inhärenten Ambivalenz der aktuellen spanischen Kultur nach. Die Widersprüche entstammen dem beschriebenen Transformationsprozess: Während „narrativas oficiales homogeneizadoras“ (S. 17) vorherrschen, wie Cornejo Parriego in der Einleitung erklärt, ist die Erfahrung von Heterogenität und Hybridität auch in Spaniens alltäglich. In seinem kurzen Prolog bemerkt Juan Goytisolo dazu nicht ohne Süffisanz: „España es ya una nación europea como las demás” (S. 14). Zugleich kollidiert die einseitige Hinwendung zu Europa, die von der Vorstellung eines „weißen” Spaniens begleitet wird, mit dem vielfältigen historischen Bezügen, die Spanien mit Afrika und Lateinamerika verbinden. Auch steht die zu beobachtende Abwehr gegen (dunkelhäutige) Immigranten in Widerspruch zum Selbstbild der meisten Spanier, die sich im besten aufgeklärten Sinne als tolerant und weltoffen sehen.

Der Band beinhaltet elf Aufsätze, die nach vier Blickwinkeln geordnet sind: Unter „Memoria colonial“ sind Beiträge zum kolonialen Erbe zu finden. „Miradas africanistas“ ist an die Idee von Toni Morrison gebunden, die das bekannte Konzept des „orientalism“ von Edward Said als „africanism“ auf diesen Kontinent erweitert hat (vgl. S. 26f.). Dabei wird dem nachgegangen, was die spanischen Bilder von afrikanischer Alterität über die Spanier selbst aussagen. Weitere vier Artikel widmen sich dem Blick über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus („Miradas transnacionales“) und zum Schluss wird die Frage nach den ethischen Konsequenzen („Miradas éticas“) gestellt, die der „encuentro […] perturbador, conflictivo, ambiguo“ (S. 20) zwischen Spaniern und Immigranten hat.

Die Kulturwissenschaftlerin Galina Bakhtiarova (Memoria colonial) untersucht eine Fernsehserie und zwei Romane, die sich um zwei populäre koloniale Typenbilder drehen: die Mulattin, die zugleich sexuell begehrt und aufgrund ihrer Hautfarbe verachtet wird, und den „americano“, den Siedlungskolonisten, der in die „Neue Welt“ zieht, um dort eine „fortuna“ zu machen und reich wieder in die Heimat zurückzukehren. Dem americano kommt besondere Bedeutung für die katalanische Geschichte zu, war doch das Kapital, das diese erwirtschafteten, von entscheidender Bedeutung für die industrielle Entwicklung Kataloniens im 19. Jahrhundert. Bakhtiarova gesteht der Fernsehserie „Havanera 1820“ das Verdienst zu, „probablemente por primera vez en el cine catalán“ (S. 44) zu thematisieren, dass dieses Kapital zum großen Teil aus dem Sklavenhandel stammte. Zugleich vermitteln die Bilder einen nostalgischen Blick auf die „más ‚querida‘ colonia española“ (S. 40), Kuba. Dennoch erkennt Bakhtiarova in den untersuchten kulturellen Erzeugnissen das Potenzial, die katalanische Identität, die sich in Abgrenzung zum kastilisch-kolonialen Ausbeutertum entwickelte, in Frage zu stellen und eine Normalisierung hin zu einer Identität einzuleiten, „que subraya el complejo espacio de Cataluña dentro de una España y una comunidad europea heterogéneas“ (S. 52).

Die angesprochene Heterogenität thematisiert auch der kamerunische Schriftsteller Victor Omgbá in seinem Roman „Calella sen saída“, der zunächst nicht auf Spanisch, sondern auf Galizisch und dann auf Katalanisch erschien. Der Protagonist des Romans, Antoine, ist ein gebildeter Immigrant in Spanien, der nichtsdestotrotz zu einem sans papier wird. Antoine fordert dieselbe Anerkennung linguistischer Pluralität, die er in Spanien für gegeben erachtet, für Afrika ein, das allzu oft Opfer nivellierender Homogenisierungen wird. Führt dies im Falle Afrikas dazu, dass der Blick auf die Realitäten des großen Kontinents verstellt werden, kann Homogenisierung im Sinne einer „Europäisierung“ in Spanien in einer gewissen Geschichtsvergessenheit enden, die Antoine seiner madrilenischen Freundin entgegenhält: „Pero ti nunca me comentaches que os espanois fosen un pobo de emigrantes“ (S. 200). Deutlich wird hier die Perspektive des Immigranten, die das zentrale Moment des Romans ausmacht. Die Literaturwissenschaftlerin María P. Tajes (Miradas transnacionales) erkennt in Omgbás Werk die Technik des „mimicry“ (Homi Bhabha) wieder. Der Roman ahme den herrschenden xenophoben Diskurs Spaniens nach, um diesen zugleich anzuklagen (S. 193). „Calella sen saída aparentemente coincide con la tendencia occidental de esencializar África como una gran masa homogénea” (S. 194), schreibt Tajes, doch werden die afrikanischen Immigranten zugleich in verschiedenen Kategorien dargestellt. Sinnfällig ist dabei etwa, dass die Kategorie Antoines, der ein gebildeter Jurastudent ist, nicht in das vorherrschende Bild vom armen Wirtschaftsflüchtling passen mag.

Überhaupt decken sich Wirklichkeit und (Selbst-) Imagination häufig nicht, wie Jorge Marí (Miradas africanistas) bemerkt: „Los discursos culturales de la transición y postransición […] han venido exaltando, por oposición al centralismo unificador franquista, la idea de la diversidad […]. En ese contexto, la ‚intrusión‘ de un fenómeno de inmigración masiva y de patente alteridad étnica viene a poner a prueba los límites de esos discursos [...]” (S. 97). Marí betrachtet in seinem Beitrag drei spanische Pophits, die sich den Anschein von Progressivität geben. Bei näherem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass die vorgegebene Toleranz nur gegenüber handzahmen Immigranten gilt, deren wirkliche Lebensumstände man nicht kennt und letztlich auch nicht kennen will. Marí erklärt den Erfolg der Lieder gerade mit dem wohligen und kommerzialisierbaren Gefühl von allgemeiner Misanthropie, die angesichts der wahren Probleme, die zu Migration führen, jedoch gleichgültig bleibt. Fortgeschrieben werden zugleich rassistische Stereotype wie die pauschalisierende Gleichsetzung von Armut, Unterdrückung, Immigration und schwarzer Hautfarbe (obwohl beispielsweise circa 50 % der Immigranten in Spanien aus (Ost-) Europa stammen, vgl. S. 192). Besonders entlarvend ist in diesem Zusammenhang der Lapsus, der der Gruppe Mecano unterläuft, wenn sie am Ende ihres Liedes singt: „Para que no digan que somos/unos zulús [sic!], hemos hecho este blues“ (S. 96).2

Doch es geht auch anders. Dosinda García-Alvite (Miradas éticas) erkennt in den jüngeren spanischen Filmen „Salvajes“ und „Poniente“ einen „avance considerable“ (S. 221). Dieser besteht zum einen im Fokus auf die spanische Gesellschaft und deren Umgang mit der Immigration (statt im immerwährenden Blick auf die Immigranten selbst) und „las dos películas muestran […] un comentario de cómo, por un lado, los propios inmigrantes ven a los españoles y los aspectos que los separan de ellos, y, por otro, también reconocen disparidades entre sí mismos“ (S. 221). García-Alvite schlägt in Anlehnung an Foucault und in Antwort auf den drohenden Faschismus in uns selbst vor, den vereinfachenden binären Klassifikationen zu entfliehen (S. 217) und bei der Identitätssuche nach „flexibilidad y fluidez“ (S. 236) zu streben. Im Film „Poniente“ wurde dies umgesetzt, indem zum Beispiel als zentraler Refrain des Soundtracks folgende Textzeile gewählt wurde: „No tengo ni patria ni equipaje, no soy de ningún lado, sólo del sol […]“ (S. 236f.).

Rosalía Cornejo Parriego hat in dem vorliegenden Buch einige interessante Arbeiten versammelt, die kulturwissenschaftlich auf der Höhe der Zeit sind. Wer sich mit dem Umgang und den Befindlichkeiten Spaniens in Sachen Immigration beschäftigen will, dem werden eine Reihe gewinnbringender Beiträge geboten. Eine ansprechende Aufmachung und ein nützliches Namensregister runden den positiven Gesamteindruck ab.

Anmerkungen:
1 Dahms, Martin, Spaniens Sitten und die Migranten, Konservative rufen mitten im Wahlkampf nach „Integrationsvertrag“, in: Frankfurter Rundschau, 11.2.2008.
2 „Zulú: […] adj. coloq. Bárbaro, salvaje, bruto” (Real Academia Española: Diccionario de la lengua española. <http://buscon.rae.es/draeI/SrvltConsulta?TIPO_BUS=3&LEMA=zul%FAl%FA>, 29.2.2008).

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